Tödliche Trugbilder

Belleville, schöne Stadt, heißt ironischerweise der Teil von Paris, in dem Abraham, Abe genannt, aufgewachsen ist – ein Stadtteil jenseits der Touristenrouten, geprägt von Armut und Aussichtslosigkeit. Abe, Kleinkrimineller und Gelegenheitsdealer, innerlich brodelnd vor Wut, überfällt mit Freunden eine illegale Pokerrunde – und legt sich damit mit Männern an, die mehr als eine Kragenweite zu groß für ihn sind.

Der Überfall verändert alles – nicht nur wegen der Drohung der Männer, sie für den Überfall zur Rechenschaft zu ziehen. Auch innerlich bricht etwas auf in Abe: Die wutgespeiste Energie in ihm lässt sich nicht mehr zügeln. Mit großer Energie rast er dem Ende entgegen, dabei zerstört er andere, die er verachtet und beneidet – und er zerstört sich selbst.

»Paris, die Nacht« ist der Debütroman von Jérémie Guez, der bei seinem Erscheinen gerade mal 22 Jahre alt war. Kraftvoll, dunkel und klar, dabei sehr elegant, schildert er mit Gespür für Rhythmus und Verzweiflung den rauschhaften, unaufhaltsamen Absturz seines Ich-Erzählers.

Mörderische Abgründe

Der Auftragsmord an einem Polizisten und einer Frau auf offener Straße lässt Commissaire Daquin zunächst an der Integrität jenes Kollegen zweifeln, da Kokain bei den Leichen gefunden wird. Aber nicht nur Drogen spielen eine Rolle: Die Ermittlungen führen zu einem Fußballverein einer tristen Pariser Vorstadt, der den Sprung in die Profiliga geschafft hat. Er ist der Hoffnungsanker der Bewohner der Banlieu. Funktionäre wie Spieler engagieren sich für die Kinder und Jugendlichen des Viertels. Doch hinter der Fassade der heilen Welt des Sports tut sich ein Abgrund auf: Geldwäsche, Korruption, Drogenhandel, Erpressung, Mord.

Glasklar und mit analytischer Präzision seziert Dominique Manotti in »Abpfiff« die Widersprüche zwischen der leidenschaftlich beschworenen Treue zum Verein und den gekauften Spielersöldnern, zwischen Teamgeist und Diventum, zwischen naiver Begeisterung und gnadenlosem Marketing- und Finanzkalkül. Sie zeigt ganz nebenbei, wie selbstverständlich Doping im Profisport ist, und bettet das Geschehen in einen weit größeren Rahmen aus Machtgier, Profitdenken und Skrupellosigkeit ein. Gewohnt brillant und unbestechlich klug.

Monster gebären Monster

Der New Yorker Central Park wird von Ratten überrannt, Leichen hängen in den Bäumen, und eine kleine, bezaubernde Fee mit roten Haaren hat irgendwas damit zu tun. Das mag im ersten Moment versponnen niedlich klingen – aber tatsächlich ist es der Auftakt einer monströs schmerzhaften Ermittlung. »Kreidemädchen« ist der vierte Kriminalroman um die einzigartige Detective Kathleen Mallory, der auf Deutsch erschienen ist. Insgesamt ist es der zehnte Roman von Carol O’Connell, und es bleibt zu hoffen, dass die restlichen auch bald übersetzt werden – denn die Autorin und ihre Hauptfigur sind schlicht brillant.

Neben Mallory ist Lisbeth Salander plumpe Kreisklasse: Mallory hat es gar nicht erst nötig, jemanden zu foltern, um ohne jeden Zweifel klarzumachen, dass sie nicht zögern würde, es zu tun. Sie ist eine Meisterin der Intrige, und die Datenbank, die nicht von ihr gehackt werden kann, muss erst noch erfunden werden. Sie ist eiskalt, absolut berechnend, perfekt in jeder Hinsicht, spielt in ihrer eigenen Klasse und Mannschaft – und ist überhaupt eine undurchschaubare, brillante Soziopathin. Vielleicht. Vielleicht spielt sie dies jedoch auch nur.

»Kreidemädchen« ist von großer Leichtfüßigkeit und Eleganz, von gemeiner Perfidie und sarkastischer Fluffigkeit, von ganz feinem, untergründigem Witz – und darunter liegt ein unstillbarer Schmerz, nicht greifbar, doch stets ahnbar. Ganz wunderbar, elegant und tödlich wie ein Stilett.

Kirsten Reimers

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Jérémie Guez: Paris, die Nacht
(Paris la nuit, 2011)
Aus dem Französischen von Cornelia Wend
Polar Verlag 2015
Tb., 136 Seiten, 12,90 Euro
ISBN 978-3-945133-14-9
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Dominique Manotti: Abpfiff
(Kop, 1998)
Aus dem Französischen von Andrea Stephani
Ariadne/Argument 2015
geb., 230 Seiten, 17 Euro
ISBN 978-3-86754-197-8
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Carol O’Connell: Kreidemädchen
(Chalk Girl, 2012)
Aus dem Amerikanischen von Judith Schwab
btb 2015
Tb., 544 Seiten, 9,99 Euro
ISBN 978-3-442-74741-2
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 Diese Rezension ist zuerst erschienen in der
Frankfurter Neuen Presse