Tödliche Attentate, perfide Fallen

Durch einen glücklichen Zufall und einen beherzten Sprung in einen Müllcontainer kann sich der Kleinkriminelle Filippo der Flucht von Carlo, einem Aktivisten der Roten Brigaden, aus dem Gefängnis in Italien anschließen. Doch statt wie erträumt an der Seite Carlos in eine heroische Zukunft aufzubrechen, wird der Junge irgendwo in den Bergen allein zurückgelassen, ausgestattet lediglich mit einer Kontaktadresse in Paris. Filippo bricht zunächst Richtung Mailand auf, erfährt jedoch unterwegs, dass Carlo bei einem Banküberfall getötet wurde, also beschließt er, nach Paris zu gehen.

Dort wird er nicht mit offenen Armen empfangen, aber Lisa, deren Adresse Carlo ihm gegeben hatte, besorgt ihm eine Unterkunft und eine Arbeit. Gekränkt von dem Desinteresse an ihm, beginnt Filippo, seine Flucht niederzuschreiben – und formt dabei auch gleich seine Vergangenheit um: schöner, bedeutender, geliebter. Und beteiligt am Banküberfall, der Carlo das Leben kostete. Filippos Buch wird ein Überraschungserfolg. Das Feuilleton ist hingerissen: Ist er wirklich ein kleiner Krimineller mit Kontakten zu italienischen Terroristen? Die Italiener, die in Paris im politischen Exil leben, sind weniger begeistert: Durch diese Buch werden sie kriminalisiert – am Ende verlieren sie womöglich ihren Status als politisch Verfolgte. Als Filippo dann noch Aussicht hat, einen Literaturpreis zu gewinnen, drohen politische Komplikationen zwischen Frankreich und Italien.

»Ausbruch« von Dominique Manotti, angesiedelt in den späten achtziger Jahren, ist Literaturmarktsatire, Politthriller und Auseinandersetzung mit der zerstrittenen italienischen Linken der achtziger Jahre. Und alles ausgelöst durch die narzisstische Kränkung eines kleinen dummen Jungen. Trocken und geradeaus geschrieben, intelligent und raffiniert.

Klein, fein, gemein

Ebenfalls in Frankreich spielt der Roman »Ein Freund des Hauses« von Yves Ravey: Vor Jahren hatte ihr Cousin Freddy ein kleines Mädchen missbraucht, nun ist er aus dem Gefängnis entlassen und steht vor Madame Rebernaks Tür. Aus Angst um ihre Tochter weist sie ihn ab und möchte ihn am liebsten ganz aus der Stadt vertreiben. In ihrer Fixierung auf den Cousin übersieht sie, was tatsächlich vor sich geht.

Yves Ravey kreiert eine Atmosphäre von allgegenwärtiger Angst und Misstrauen, von bohrendem Argwohn. Alles in allem ist der Roman nicht wirklich überraschend, aber raffiniert, klein, fein und gemein und dazu geschrieben aus einer etwas ungewöhnlichen Perspektive.

Die Brücke über die Drina

Das Debüt von André Georgi, bislang vor allem bekannt als Drehbuchautor für den »Tatort«, führt in die Niederlande und nach Serbien: Bei einem Attentat kommt der einzige aussagewillige Zeuge gegen den serbischen Kriegsverbrecher Kovać ums Leben. Jasna Brandič, Ermittlerin des Tribunals in Den Haag, überlebt. Wenig später erhält sie die Nachricht, dass ein enger Vertrauter Kovać’ bereit ist, gegen ihn auszusagen, wenn sie es schafft, ihn in Serbien aufzuspüren und lebend nach Den Haag zu bringen. Gegen den Willen ihrer Vorgesetzten bricht Jasna auf in die Gegend um Višegrad – direkt in eine grausame Falle.

Dreh- und Angelpunkt des Thrillers »Tribunal« ist ein fiktives Massaker aus dem Jahr 1992 auf der Brücke über die Drina, für das Kovać mit seiner paramilitärischen Einheit, die »Wölfe« genannt, verantwortlich ist. 3.953 muslimische Männer verloren dabei ihr Leben, hunderte Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt.

Im April 1992 war Višegrad tatsächlich der Schauplatz ethnischer Säuberungen und Massenvergewaltigungen. Doch Georgi legt mit seinem Thriller »Tribunal« keinen dokumentarischen Roman oder Schlüsselroman vor, auch wenn viele Dinge eine Entsprechung in der Wirklichkeit finden.

Kalt, knapp, schonungslos und zum Teil sehr brutal schreibt er von Krieg und Gräueltaten mitten in Europa, von Folter, von Rissen, die durch Familien gehen, von Gewaltbereitschaft, Fanatismus und Barbarei am Ende des 20. Jahrhunderts. Dafür wählt er als Schauplatz die Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke, die schon für Nobelpreisträger Ivo Andrić (in seinem Roman »Die Brücke über die Drina«) sowie für den Schriftsteller Saša Stanišić (in »Wie der Soldat ein Grammofon repariert«) ein Symbol von Verbindung und Trennung war.

Kirsten Reimers

Zum Bestellen bei eBook.de einfach auf den Titel klicken:

Dominique Manotti: Ausbruch
(L’évasion, 2013)
Aus dem Französischen von Andrea Stephani
Ariadne/Argument 2014
geb., 253 Seiten, 17 Euro
ISBN 978-3-86754-218-0
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Yves Ravey: Ein Freund des Hauses
(Un notaire peu ordinaire, 2013)
Aus dem Französischen von Angela Wicharz-Lindner
Kunstmann 2014
geb., 93 Seiten, 14,95 Euro
ISBN 978-3-88897-969-9
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

André Georgi: Tribunal
Suhrkamp 2014
Tb., 317 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-518-46515-8
auch erhältlich als eBook (hier klicken)
auch erhältlich als Hörbuch (hier klicken)
auch erhältlich als Hörbuch-Download (hier klicken)

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in:
Frankfurter Neue Presse