Wenig Hoffnung im Schatten

Ein düsteres Porträt des postkommunistischen Russlands

In einem Waldstück in der Nähe von Moskau wird die Leiche der fünfzehnjährigen Shenja gefunden. Sie wurde erwürgt und mit Babyöl übergossen. Vor anderthalb Jahren gab es bereits drei ähnliche Fälle. Allerdings konnten die jugendlichen Opfer damals nicht identifiziert werden. Nur so viel war klar: Sie gehörten zu einem Kinderpornoring. Ein Täter wurde nie gefasst.

Durch Zufall erfährt die klinische Psychologin Olga Filippowa vom Leichenfund. Olga gehörte bis vor Kurzem zu einem Team, das im Auftrag des Innenministeriums Profiling nach Vorbild des FBI in Russland etablieren sollte. Unter anderem war es mit den Fällen der drei ermordeten Jugendlichen betraut. Nach Auflösung der Gruppe hatte Olga sich geschworen, nie wieder etwas mit Schwerverbrechen zu tun haben zu wollen. Doch der Fall des toten Mädchens lässt sie nicht los.

Damals wie heute ist Olga überzeugt, dass es eine Verbindung zu mehreren Morden in den achtziger Jahren gibt. Zwar war einst ein Mann verhaftet worden, doch Olga zweifelt an dessen Schuld. Aber befragen kann sie ihn nicht mehr, denn der sogenannte Würger von Dawydowo hat sich noch während der Untersuchungshaft das Leben genommen. Ein Schuldeingeständnis oder die Verzweiflungstat eines Unschuldigen, der wusste, dass er gegen die Mühlen der sowjetischen Bürokratie nichts ausrichten konnte? Zudem sind sämtliche Unterlagen des Falles aus den Archiven verschwunden. Mit ihrem Herumstochern in der Vergangenheit und dem Anzweifeln der offiziellen Interpretation des Mordes an der jungen Shenja macht sich Olga keine Freunde – ganz im Gegenteil.

Abstufungen von Schwarz

Polina Daschkowa gilt als die wichtigste Krimiautorin des modernen Russlands. Auch international ist sie seit über zehn Jahren äußerst erfolgreich: Ihre Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und über 40 Millionen Mal weltweit verkauft. Daschkowa schreibt keine Serie, ihre Hauptfiguren wechseln stets. Dadurch gelingt es ihr, ein facettenreiches Bild des postkommunistischen Russlands zu entwerfen – und dieses Porträt ist alles andere als schmeichelhaft.

Daschkowa zeigt eine Gesellschaft, die ihre Orientierung verloren hat und sich in kalten Zynismus und skrupellosen Materialismus flüchtet. Eine tiefe Kluft zerreißt das Land in zwei Lager: Die Menschen sind sehr arm oder sehr reich – eine Mitte gibt es kaum. Bespitzelung, Zensur und Desinformationspolitik der Regierung werden mit achselzuckender Beiläufigkeit abgetan, so vertraut ist dies im Alltag. Daschkowa scheut sich nicht, brisante Themen wie Korruption, organisiertes Verbrechen und Kinderprostitution anzusprechen. Die Ursachen dafür sieht sie nicht in der Öffnung Russlands zum Kapitalismus. Sie zeigt im Gegenteil, dass schon in der Sowjetunion die gleichen Verbrechen passierten. Und damals wie heute werden sie vertuscht.

Mit einfachen Täter- und Opferzuschreibungen gibt sich Daschkowa nicht zufrieden. Sie blickt genau hin und zeigt, dass Ursache und Wirkung nicht leicht voneinander zu trennen sind – falls überhaupt. Das ist unbequem und mitunter schmerzhaft und ermöglicht Daschkowa die Gestaltung ausgefeilter Charaktere, mit denen sie einer platten Schwarzweiß-Zeichnung entgeht. Stattdessen bieten ihre Bücher ein vielschichtiges und bedrückendes Bild des gegenwärtigen Russlands.

Kirsten Reimers

Polina Daschkowa: In ewiger Nacht
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Aufbau Verlag 2010
geb., 452 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-351-03271-5
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Diese Besprechung ist zuerst erschienen im Titel-Magazin