Messias in Alaska

Es hätte auch ganz anders kommen können. 1946: Der Zweite Weltkrieg endet, als die Amerikaner eine Atombombe über Berlin abwerfen, nachdem die Nazis die Sowjetunion erobert haben. 1948: Der Staat Israel kollabiert. Die USA stellen den Juden den Distrikt Sitka in Alaska für einen begrenzten Zeitraum zur Besiedlung zur Verfügung. Heute: Die Verträge laufen aus, der Distrikt fällt in wenigen Wochen wieder zurück an die USA. Die 3,2 Millionen Juden, die hier inzwischen leben, müssen sich ein neues Zuhause suchen.

Das ist die Ausgangssituation für Michael Chabons Kriminalroman „Die Vereinigung jiddischer Polizisten“. In dieser Atmosphäre der Auflösung und Unsicherheit wird die Leiche eines erschossenen Junkies gefunden, der unter dem falschen Namen Emanuel Lasker – nach dem deutschen Schachgroßmeister – in dem heruntergekommenen Hotel Zamenhof wohnte. Detective Meyer Landsman, der ebenfalls dort haust, nimmt sich des Falles an. Landsman ist nicht weniger heruntergekommen als seine Absteige: Seit seine Ehe gescheitert ist, trinkt er zu viel, grübelt zu viel und schläft zu wenig. Und er hat Angst vor dem Dunkel. Nur seine Arbeit hält ihn noch zusammen.

„Er hat eine Zerrung im Rücken, ein Stechen im Kopf und einen scharf pochenden Schmerz in seiner Würde. Der bis vor kurzem von seinem Hirn ausgefüllte Raum zischt wie Nebel in seinen Ohren, summt wie eine Neonröhre. Landsman hat das Gefühl, seine Seele habe Tinnitus.“

Meyer Landsman ist ein Philip Marlowe, ein Sam Spade, er ist alle PI der Hard-boiled-Romane zusammen, nur halt mit Polizeimarke. Er ist der „höchst ausgezeichnete Schammes in Distrikt Sitka“, dem jüdischen Bezirk im kalten Alaska, in dem Jiddisch Amts- und Umgangssprache ist, und der im unterschwelligen Dauerklinsch mit den Tlingit, den indianischen Ureinwohnern, liegt.

Und weil die „Reversion“ vor der Tür steht, die Wiedereingliederung Sitkas in den Behördenbetrieb der USA, will niemand neue Fässer öffnen oder lose Enden hinterlassen – schon gar nicht Bina Gelbfish, die beauftragt wurde, die Polizeibehörde von Sitka abzuwickeln. Sie ist die neue Vorgesetzte von Landsman und außerdem seine Exfrau. Ein toter Junkie, hingerichtet in einer Absteige, dazu noch völlig zugedröhnt, als er den Tod fand – das ist kein Fall, der weit oben auf der Prioritätenliste steht, das ist eine Akte, die einfach zugeklappt wird.

Doch Landsman verbeißt sich in diesen Mord – nicht zuletzt, weil hinter dem Toten eine immer ungewöhnlichere Vergangenheit aufscheint. Ein ehemaliges Schachwunderkind, Sohn des mächtigen Rabbi Heskel Shpilman, der seine Gemeinde führt wie ein Mafiaboss, und vielleicht gar – früher schon; heute auch noch? – der ersehnte Messias seiner Generation. Und je tiefer Landsman mit seinem Partner Berko Shemets – dem riesige Tlingit mit Jarmulke – gräbt, umso unglaublicher wird, was sie entdecken, bis hin zu einer Verschwörung, die verstörende Ausmaße annimmt (unter anderem durch eine Milchkuh).

Mit großer Freude am Detail entwirft Michael Chabon in seinem Roman in Hard-boiled-Tradition eine eigene Welt mit ihren eigenen Begriffen – Mobiltelefone heißen hier zum Beispiel „Shoyfer (nach dem Schofar), Polizisten werden „Nos“ genannt, Waffen „Scholem“ -, eine Welt, die schillert, die stinkt, die pulsiert und in der es regnet und schneit, dass man beim Lesen eine warme Decke braucht. In einer üppig-barocken Sprache schafft Chabon einen Gegenentwurf zur Realität, der in seiner Lebendigkeit gefangen nimmt. Wie Sacha Verna es im „Büchermarkt“ im Deutschlandfunk so schön beschrieb: „Chabon ist ein literarischer Maximalist. Kein Satz kommt bei ihm ohne Sprachbild aus, keine Nebenfigur ohne Gesicht, keine Abstellkammer ohne Tapete.“

Kostprobe?

„Rabbi Heskel Shpilman ist ein deformierter Berg, ein riesiges, auseinandergelaufenes Dessert, ein Comichaus mit geschlossenen Fenstern, in dem der Wasserhahn aufgedreht wurde. Ein kleines Kind hat ihn zusammengeklebt, nein, eine ganze Kinderbande, blinde Waisenkinder, die noch nie einen Menschen gesehen haben. Sie haben den Teig für seine Arme und Beine an den Teigklumpen des Rumpfes gepappt und dann den Kopf obendrauf gedrückt. Ein Millionär könnte seinen Rolls-Royce mit dem edlen schwarzen Samt- und Seidenstoff von Rebbes Gehrock und Hose auskleiden. Es würde das Hirnschmalz der achtzehn größten Weisen der Geschichte fordern, um die Argumente für und wider die Einordnung seines gewaltigen Hinterns als Wesen aus der Tiefe, als menschengeschaffenes Gebilde oder als einen unvermeidlichen Akt Gottes zu disputieren. Ob er aufsteht oder sich hinsetzt, es macht keinen Unterschied für das, was man vor sich hat.“

Und das Wundbare ist: Trotz aller Details, die mit wahrer Hingabe ausgestaltet sind, trotz aller Nebenwege, aller abstrus-surrealistischer Gedankenschlenker findet Chabon immer wieder zurück zum Fall. Das Leben und der Tod des vermeintlichen/vermutlichen Messias Mendel Shpilman bilden Dreh- und Angelpunkt des Romans, den Anker, verknüpfen alle Stränge miteinander. Das ist kunstvoll, das ist trocken-witzig, das ist absonderlich, das ist schmerzlich – und so richtig gut.

Übrigens haben sich die Coen-Brüder die Filmrechte gesichert.

Kirsten Reimers

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Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer
Kiepenheuer & Witsch 2008, 422 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-462-03972-6
auch erhältlich als Hörbuch-Download (hier klicken)

Diese Besprechung ist auch erschienen auf satt.org