Nachtschwärze, Eiseskälte, Langeweile

Zwar sorgfältig konstruiert, aber vorhersehbar

Als die Temperance Brennan zu sich kommt, umgibt sie Schwärze, feuchte Kälte und ein muffiger Geruch: Offenbar ist sie lebendig eingesperrt in einer recht geräumigen Grabkammer. Nach und nach kehren Brennans Erinnerungen an die vergangenen Tage und Wochen zurück. In der letzten Zeit haben sich zahlreiche merkwürdige Dinge ereignet: Sie war in ihrer Wohnanlage das Ziel mehrer anonymer Attacken (Drohbriefe, eingeschlagene Fensterscheibe, Katzenkot vor der Wohnungstür), und auch an ihrem Arbeitsplatz in Montreal häuften sich eigenartige Vorfälle: Die Expertin für Knochen wurde beschuldigt, unsauber gearbeitet zu haben, Todesursachen falsch eingeschätzt, Knochen am Skelettfundort übersehen und Spuren an alten Zähnen nicht richtig analysiert zu haben. Überarbeitung? Schlampiges Vorgehen? Oder gar Sabotage?

Das ist der Auftakt von Kathy Reichs 12. Thriller um die forensische Anthropologin Dr. Temperance Brennan. Im Original heißt er deutlich zurückhaltender und in seiner Nüchternheit letztlich treffender »206 Bones«. Nach dem dramatischen Beginn geht es auf zwei Zeitebenen weiter: Während Brennan versucht, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien, wird auf einer zweiten Zeitschiene aufgerollt, was in den Wochen zuvor vorgefallen ist: Morde an mehreren älteren Frauen, die offenbar zusammenhängen, zufällig gefundene Skelettreste von mindestens vier Personen, ein anonymer Anrufer, der Brennan der Nachlässigkeit bezichtigt. Und natürlich spielt die reichlich komplizierte Beziehung zu Detective Andrew Ryan eine Rolle, der nun doch wieder gern zu Tempe Brennan zurückkehren würde.

Verwicklungsfreiraum

Abgesehen von dem reißerischen Anfang ist es eigentlich ein recht ruhiges Buch: unspektakuläre Ermittlerarbeit, Verhöre, Untersuchungen von Knochen und Zähnen mit den neuesten technischen Errungenschaften. Wirklich gut und spannend wird es immer dann, wenn Brennan sich in ihre Arbeit vertieft und Reichs unaufgeregt und detailliert, aber sehr verständlich und anschaulich beschreibt, was Brennan tut – kein Wunder: schließlich arbeitet Reichs selbst als forensische Anthropologin. So ist es besonders der Fall der vier alten Skelette, der eine gewisse Sogkraft entwickelt. Leider ist das nur ein Nebenstrang.

Im Mittelpunkt stehen die Morde an den älteren Frauen und die Anfeindungen, gegen die sich Tempe Brennan erwehren muss. Aber das wirkt wie lustlos runtergeschrieben, ohne große Verwicklungen oder Überraschungen. War der letzte Fall »Der Tod kommt wie gerufen« (im Original »Devil Bones«) verworren und opak, so ist es diesmal allzu offensichtlich, was und wer dahintersteckt. Und die Lebendig-begraben-Geschichte ist ein eigenartig aufgepfropfter Block, der wohl etwas Action in den sonst beschaulichen Fortgang bringen soll.

Bei aller Halbherzigkeit ist der Krimi aber natürlich wie alle Thriller von Kathy Reichs gut geschrieben (auch recht gut übersetzt), in sich konsistent und sorgfältig aufgebaut. Aber er überrascht halt an keiner Stelle und wirkt insgesamt eher wie eine langweilige Pflichtübung.

Kirsten Reimers

Kathy Reichs: Das Grab ist erst der Anfang
Aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Berr
Blessing 2009
geb., 384 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-89667-323-7
auch erhältlich als eBook (hier klicken)
auch erhältlich als Hörbuch-Download (hier klicken)

Diese Rezension ist bereits erschienen im neu gestalteten Titel-Magazin.


Verwabert im Unentschlossenen

Milde Satire, Selbstfindungsroman oder kuscheliger Whodunit?

Seit dreißig Jahren hat Schriftstellerin Amy Gallup keinen Roman mehr veröffentlicht. Um sich über Wasser zu halten, gibt sie Abendkurse im kreativen Schreiben. Unter den Schülern ihrer neuen Klasse aber befindet sich jemand, der die Sache deutlich zu ernst nimmt. Anonym terrorisiert er Lehrerin wie Teilnehmer gleichermaßen: Die eingereichten Leseproben werden verhöhnt, die Kursmitglieder bös verunglimpft, eine Schülerin fast zu Tode erschreckt; Amy erhält nachts Anrufe, bei denen ein Tonband stets wiederholt, was sie wenige Stunden zuvor im Unterricht gesagt hat. Lag in den Taten anfangs noch ein boshafter Witz, werden sie im Laufe der Zeit immer gemeiner und tückischer. Schließlich kommt gar der erste Kursteilnehmer ums Leben.

Jincy Willetts Buch »Die Dramaturgie des Tötens« (im Original »The Writing Class«) lässt sich zunächst gut an, es ist ansprechend geschrieben und sehr gut übersetzt. Die Hauptfigur nimmt viel Raum ein und ist liebevoll ausgestaltet als grummelige ältliche Eigenbrötlerin, gesegnet mit einer spitzen Zunge, der sie – zumindest in privaten Äußerungen – zum Glück wenig Einhalt gebietet. So kommen einige recht amüsante und zielsichere Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb und die Selbst- und Fremdfindung in Abendkursen der Erwachsenenbildung zusammen. Es gibt sogar ein paar sehr nützliche Tipps zum Verfassen von belletristischen Texten.

Ohne Spannungsbogen ins Aus laviert

Doch während Amy Gallup aus ihren Taten, Gedanken und Worten heraus charakterisiert wird, bestehen die meisten übrigen Figuren nur aus Zuschreibungen. So bleiben sie blass und verwechselbar. Auch die Handlung, die anfangs einen erfreulichen Sog entwickelt, gerät nach und nach ins Stocken. Das liegt unter anderem an einem unentschiedenen Serientäter.

Im Grunde passt das sogar zu den Personen. Denn Hauptfigur Amy betont mehrfach, dass sie nicht am »Wie« interessiert ist – und tatsächlich bleiben die Fragen, wie denn nun der Täter vorging, weitgehend ungeklärt. Auch das unentschlossene Vorgehen des Serientäters ist der Figur durchaus angemessen, entspricht es doch seinem Schreibstil: überwiegend ohne Spannungsbogen.

Doch ein Krimi ohne Spannungsbogen – das klappt nur selten. Und das funktioniert überhaupt nicht, wenn der Text noch dazu herumlaviert zwischen Selbstfindungsroman, (sehr milder) Satire auf den eitlen Schreibzirkus und Whodunit – auch wenn »Herumlavieren« exakt das Vorgehen ist, das Amy ausdrücklich wählt, um den Serientäter zu entlarven. Die Autorin hätte lieber andere Aussagen ihrer Hauptfigur aufgreifen sollen. Zum Beispiel hätte sie ihre Schreibtipps beherzigen können. Hätten alle mehr von gehabt.

Kirsten Reimers

Jincy Willett: Die Dramaturgie des Tötens
Deutsch von Gabriele Weber-Jarić
Rowohlt TB 2009
kart., 399 Seiten, 9,95 Euro
ISBN: 978-3-499-24914-3

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Es lohnt sich unbedingt ein Blick ins neugestaltete
Titel-Magazin


Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein

Witzel, Walter und Meinecke rekonstruieren ihre BRD

Jubeljahr 2009: 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Mauerfall. Staatstragende Festlichkeiten und gravitätische Gedenk- veranstaltungen allerorten. Eine etwas andere Erinnerung bietet das Buch von Frank Witzel (Schriftsteller, Musiker, Illustrator), Klaus Walter (Radiomoderator, DJ, Journalist) und Thomas Meinecke (Schriftsteller, Musiker, Radio-DJ). Nach ihrem Gesprächsband »Plattenspieler« aus dem Jahr 2005, in dem Pop die Weltdeutungsmatrix gab, ist es nun die Frage »Was bedeutet für uns BRD?«, die als Gegenstand der Unterhaltung der drei Männer Jahrgang ’55 dient.

FW: Ich möchte doch nur darüber reden. Obwohl du das alles durchschaut hast und ich nicht gerührt war, waren das trotzdem Punkte, die für die BRD von Bedeutung waren.
TM: Aber nicht für meine BRD. Wir machen doch kein Buch für irgendwelche Spießer da draußen, die sagen: Das war toll, als der endlich mal mit Turnschuhen da reinging [Joschka Fischers Vereidigung als erster grüner Minister einer hessischen Landesregierung 1985]. Das ist einfach nicht meine BRD.
FW: Thomas, Thomas, wir wollen doch über unsere BRD reden.
KW: Steile These wäre, dass dieser Turnschuhmoment schon das Ende der BRD war.
FW: Aber dann wär’s ja ein doller Moment.
KW: Ein Zeichen, hier mischt sich jetzt die Gesellschaft neu, und hier gibt es jetzt neue Allianzen.
TM: Das finde ich nicht. Das war einfach die Klimax des Zweitausendundeinshaften.
KW: Du meinst den Laden jetzt.
TM: Ausverkauf von Dingen, die einem eigentlich etwas bedeuten

Adenauer neben dem Rosenbusch, Nazis unter den Lehrern, Günter Grass und der beleidigte Gestus, Franz Josef Strauß, Beate Klarsfeld, Kiesinger, Adorno, die Grünen, der Katholizismus, natürlich die RAF, ’68, die Frage, wann Nacktheit von Befreiung zum Zwang mutierte, selbstverständlich Musik – die drei versuchen festzumachen, welche Bilder und Ereignisse, welche Erfahrungen und Gefühle sie mit der BRD verbinden. Im Vordergrund steht der politische Blick, Generationengeplapper wie der Austausch über Spielzeug oder Fernsehserien soll – so Klaus Walter im Vorwort – vermieden werden. Er räumt aber selbst ein, dass das nicht immer gelingt. Das macht aber nichts, denn es ist nicht strukturbestimmend, sondern tupft nur manchmal auf.

Dieses schlimme Wir

Es ist ein Blick aus der zweiten Reihe, wie die Autoren selbst sagen: geboren Mitte der fünfziger Jahre, zu jung für ’68, zu alt für Punk – immer darauf wartend, dass nun endlich ihre Ära kommt. Aus der beobachtenden Distanz entsteht so ein facettenreicheres Bild der BRD als bei den Jubelevents – was aber angesichts der Autoren auch kaum überrascht. Es ist ein privater und zugleich kollektiver Blick auf die politische Bewusstwerdung, die Konstruktion von Identität durch die Erinnerung.

Immer mitgedacht dabei: die Gesprächsituation als Produktionssituation. Die Versuchsanordnung ist dieselbe wie in »Plattenspieler«, erklärt Walter im Vorwort: »Die Gespräche werden aufgezeichnet, abgeschrieben, gedruckt. Keine redaktionelle Bearbeitung. Weglassen ist erlaubt, Verschönern nicht.« Neben Überlegungen zur Titelwahl und dem Ziel des Buches finden sich wiederholt Bemerkungen, dass das eben Gesagte ja wohl für die Buchrückseite gesprochen worden sei. Dadurch wird eine weitere Ebene, eine zusätzliche Reflexionsspur eingezogen; die ironische Distanz zum Gesprächsgegenstand wird vergrößert und das gesamte Projekt veruneigentlicht.

KW: Sollen wir das Buch nicht Sozusagen nennen?
TM: Sag ich das immer noch so oft?
KW: Nee, ich auch. Mir ist aufgefallen, dass ich permanent sozusagen sage.
TM: Ich habe das teilweise mal aufgelöst durch quasi.
KW: Sozusagen steht doch für eine abhanden gekommene Eigentlichkeit, dass man also nicht mehr über Deutschland reden kann, dass, wer Deutschland sagt in unserer Adoleszenz, eindeutig ein Apologet des Nazi-Deutschlands ist, und wer BRD sagt, ein Apologet der deutschen Teilung. Beides sind klare politische Positionierungen, und es gibt nicht mehr eine Naivität des Deutschland-Sagens.
TM: Prima Sache, eigentlich.
KW: Prima Sache, die aber von niemandem politisch adaptiert wurde. Oder gab es irgendwen, der diese Nicht-Identität für sich proklamiert hat? Handke oder whoever?
FW: Der war ja Österreicher. Der hatte ein ganz anderes Problem.

»Die Bundesrepublik Deutschland« ist ein sehr eigener Blick zurück, eine tripelbiografische Rekonstruktion. Manchmal etwas verlabert, manchmal etwas lustlos, mitunter auch ein wenig gezwungen – aber meist witzig, aufschlussreich, waghalsig, mehrbödig. Eine gute Ergänzung zum üblichen unkritisch-verzuckerten Erinnerungskitsch.

Kirsten Reimers

Frank Witzel, Klaus Walter, Thomas Meinecke: Die Bundesrepublik Deutschland
Edition Nautilus 2009
kart., 192 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-89401-600-5

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Eine kürzere Version ist bereits erschienen bei Literaturkritik.de


Spurensuche innen und außen

Catherine O’Flynns bezauberndes Debüt zwischen Kriminalroman und Gesellschaftsporträt

Kate ist elf, als sie die Detektei Falcon-Ermittlungen gründet. Das ist im Jahr 1984. Ihr einziger Mitarbeiter ist Mickey Monkey, ein Stoffaffe, den sie zu ihrem Detektivpartner ausbildet. Besonders gut geeignet ist Mickey für Observierungen.

Er war klein genug, um trotz seines exotischen Outfits nicht aufzufallen. (…) Er trug einen Nadelstreifen-Gangsteranzug mit Gamaschen. Die Gamaschen verdarben zwar den Sam-Spade-Effekt etwas, aber Kate mochte sie trotzdem.

Wichtigste Grundlage für ihre Arbeit ist das Buch »Wie werde ich Detektiv«, dass ihr ihr Vater kurz vor seinem plötzlichen Tod schenkte. Mit ihm verband Kate die Leidenschaft für Krimis und Detektivspiele. Die Mutter hat die Kleinfamilie schon vor Jahren verlassen. Nun wächst Kate bei ihrer Großmutter auf, die sich nur wenig für das Kind interessiert. So hat Kate – unauffällig und höflich, in der Schule fleißig und zurückhaltend – den Freiraum, den sie braucht, um ihren Ermittlungen nachzugehen. Das tut sie mit großer Ernsthaftigkeit.

Kate notierte in ihrem Büchlein: »Gurken/Cornichons – nicht dasselbe: Unterschied recherchieren.« Sie hatte keine Lust, auf einer USA-Mission wegen eines so blöden Fehlers aufzufliegen.

Ihr wichtigster Tätigkeitsbereich ist das neueröffnete Einkaufszentrum Green Oaks. Andere Kinder dürfen nur mit ihren Eltern herkommen, doch Kate nimmt sich die Freiheit, es allein zu erkunden. Hier streift sie durch die Geschäfte, informiert sich über notwendige Ausrüstungsgegenstände (Walkie-Talkies, Stempelkissen für Fingerabdrücke und Ähnliches) und observiert Menschen, die ihr verdächtig erscheinen. Denn Kate ist sich sicher: Eines Tages wird hier ein Verbrechen geschehen – ein großes. Dafür will sie gerüstet sein.

Donnerstag, 26. April
Heute gesehen, wie sich großer Mann mit weißer Hautfarbe in Tropenpflanzenrondell in der Mitte des Hauptatriums versteckte. Schien mit einem Blatt zu reden. Kein kriminelles Motiv erkennbar, also gingen Mickey und ich schnell weiter.

Freitag, 27. April
Während Bankenobservierung plötzlich gesehen, wie einzelner Mann an mir vorbei und durch die Tür von Barclays ging. Hielt es eindeutig für einen Überfall. Folgte ihm mit meiner Kamera, aber er brüllte nur den Bankangestellten wegen irgendwelcher Bankgebühren an. Er benutzte eine Menge vulgärer Wörter, war aber unbewaffnet und plante offenbar keinen Bankraub. Trotzdem eine gute Übung – er hat uns kalt erwischt.

Doch eines Tages verschwindet Kate spurlos.

Lebenslügen hinter glänzender Oberfläche

Im Jahr 2003 entdeckt Kurt, Wachmann in der Shoppingmall Green Oaks, eines Nachts ein kleines Mädchen mit einem Stoffaffen und einem Notizbuch auf einem seiner Überwachungsmonitore. Doch er scheint der Einzige zu sein, der das Mädchen sehen kann. Gemeinsam mit Lisa, Managerin vom Dienst im CD-Laden der Mall, macht er sich auf die Suche nach dem Mädchen, denn Lisa hat einen verstaubten Stoffaffen mit weißen Gamaschen in einem der Versorgungsgänge entdeckt.

Die Suche nach dem Mädchen bringt Lisa und Kurt aber nicht nur einander näher, sondern lässt auch ihre Lebenslügen offenkundig werden. Und nicht nur ihre. Denn das Shoppingcenter Green Oaks wird in Catherine O’Flynns Debütroman (im Original: »What Was Lost«) zum Knotenpunkt zahlreicher Lebensläufe und Gesellschaftsentwicklungen. Hier treffen sie aufeinander, die Armen, die in den Mülltonnen nach Essbaren wühlen, die Klebstoffschnüffler, die auf dem Dach des Centers nicht mit ihrem Leben zurechtkommen, die konsumierfreudigen Angehörigen der unteren Mittelschicht, die wie gierige Zombies durch die Gänge wanken, die Besessenen, die in Green Oaks einen Lebenssinn finden, die Angestellten, die von diesem riesigen Gebäudekomplex regelrecht verschlungen werden. In kurzen Exkursen kommen sie zu Wort.

Im Zentrum aber stets: Green Oaks. Dieser Koloss von einem Einkaufszentrum mit seiner Ober- und Unterwelt. Während die Ladenpassagen glitzern und leuchten, freundliche Entspannungsoasen die Kunden einladen, sich niederzulassen, sind die Angestellten dazu verdammt, hinter den Kulissen durch graue, fensterlose Versorgungsgänge zu hasten, sich in winzige Teeküchen zu quetschen oder ihre Toiletten mit Kartons zu teilen. Zahllose Überwachungskameras beobachten sie dabei. Die Mall scheint lebendig zu sein, zu atmen, zu lauern.

Es war etwa 23 Uhr, als Kurt plötzlich mitten auf seinem Rundgang stehen blieb und den Atem anhielt. Er spannte die Gesichtsmuskeln an und horchte. Er versuchte, durch das leise Surren der Neonröhren und das noch leisere Schwirren der Lüftungsventilatoren hindurchzuhorchen, aber da war nichts. Er war ganz in Gedanken gewesen und konnte nicht sagen, wie lange er schon gespürt hatte, dass da jemand war.

Kriminalgeschichte, Gesellschaftsporträt, Gespenstererzählung, Entwicklungsroman

Green Oaks fängt die Menschen ein und lässt sie nicht los. Die kleinen Läden in der Hauptstraße verlieren ihre Kunden, die Innenstadt verödet und wird gefährlich für wehrlose oder ältere Passanten. Kurts Mutter muss das schmerzhaft erfahren. Die gesellschaftliche Schere wird größer, das soziale Klima kälter. Wer überleben will, passt sich an in Green Oaks, schuftet stundenlang, um sich eine Wohnung leisten zu können, in der er sich kaum aufhält.

Bei allem Sozialbezug: Nie hebt Catherine O’Flynn anklagend oder gar besserwisserisch den Zeigefinger: Sie beobachtet scharf und klug und lässt das Erkannte leichtfüßig und unaufgeregt in ihre Geschichte einfließen. Witzig und elegant erzählt sie anrührend – ohne je sentimental zu werden – die Geschichte von Kate, die mit ihrem Leben und über ihr Verschwinden hinaus viele Menschen berührt und verändert. So gelingt es O’Flynn, Kriminalgeschichte, Gesellschaftsporträt und Gespenstererzählung zu einem einfühlsamen und intelligenten Entwicklungsroman zusammenzuführen.

Kirsten Reimers

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Catherine O’Flynn: Was mit Kate geschah
Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann
Atrium 2009
geb., 270 Seiten, Euro 19,90
ISBN: 978-3-85535-580-8

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Überrollt von Sentiment

Differenziert gestartet, reduziert gestrandet

Laura Lippman lehnt ihr Buch (im Original: »What the Dead Know«) an einen wahren Fall an: Im März 1975 verschwanden in der Nähe einer Shoppingmall in Baltimore zwei Mädchen, Schwestern genauer gesagt. Es wurde nie ein Spur von ihnen gefunden. Lippmans Geschichte nimmt diese Ausgangssituation auf, weiter gehen die Ähnlichkeiten aber nicht.

Bei Laura Lippman sind es die Schwestern Sunny und Heather Bethany, 15 und 12 Jahre alt, die am Ostersamstag des Jahres 1975 während eines Ausflugs in eine Shoppingmall verschwinden. Sie lösen sich regelrecht in Luft auf. Dreißig Jahre lang gibt es keinerlei Spuren oder Hinweise, was mit ihnen geschehen sein könnte. Doch dann taucht eine Frau auf, die behauptet, Heather, die jüngere Schwester, zu sein. Allerdings bleiben die ermittelnden Polizisten misstrauisch: Die Frau weiß zwar Dinge, die nur einem Familienmitglied oder einer sehr engen Vertrauten bekannt sein können, aber andererseits lügt sie ganz offensichtlich und hält Informationen zurück. Sie scheint ein sehr eigenes Spiel zu spielen.

Geduldiges Aufrollen der Vergangenheit

Die Autorin lässt sich viel Zeit in der Entwicklung ihrer Geschichte, und das ist vermutlich das Beste an diesem Buch. Das Geschehen in der Gegenwart nimmt nur wenige Tage ein, den Rest des über 400 Seiten dicken Buches füllen Rückblenden. So wird der Tag, an dem die Mädchen verschwanden, aus Sicht eines jeden Familienmitglieds geschildert: Je mit Blick auf Sunny, Heather, ihre Mutter Miriam und ihren Vater Dan wird aufgerollt, wer was getan hat.

Weitere Rückblenden berichten aus den vergangenen dreißig Jahren, im Fokus wieder jeweils eine Person. Die Eltern haben sich wenige Jahre nach dem Verschwinden ihrer Töchter getrennt. Dan, der Vater existiert nur noch für die Erinnerungen an seine Kinder. Er ist in Baltimore geblieben, im gleichen Haus, stets umgeben von den Trümmern eines zerstörten Familienlebens in der Hoffnung, eines Tages kämen Sunny und Heather zurück. Erstarrt in der Vergangenheit, ist er nur noch eine funktionierende Hülle. Miriam hingegen ist zu der Überzeugung gelangt, dass ihre Töchter tot sein müssen, sonst hätten die Eltern längst etwas von ihnen gehört. Sie hat sich ein neues Leben aufgebaut, das sie schließlich bis nach Mexiko führt – stets die Vergangenheit verschweigend, um Nachfragen und Erinnerungen zu vermeiden.

Andere Rückblicke erhellen Teile der Vergangenheit jener Frau, die behauptet, Heather Bethany zu sein. Es sind Ausschnitte einer schrecklichen Jugend: Sie ist aufgewachsen unter falschem Namen in einer Familie, die nicht ihre leibliche ist, sexuell missbraucht, geschlagen, missachtet. Als sie älter ist, wird sie aus ihrem offenen Gefängnis hinausgestoßen und führt von da an ein Leben mit ebenso oft wechselnden Identitäten wie Jobs, weil sie sich nirgendwo einpassen kann und sehr aggressiv wie auch manipulierend auftritt.

Der Umgang mit Traumata und das Vermeiden von Konflikten

Auf diese Weise steht in Laura Lippmans Buch weniger die Krimihandlung im Vordergrund, sondern weit mehr geht es um den unterschiedlichen Umgang mit Traumata, um das, was Verlust, Schmerz, aber auch fortwährende Demütigung aus einem Menschen machen, wie diese Erfahrungen das Leben beeinflussen. Lippman zeichnet ihre Figuren mit viel Einfühlungsvermögen: Die Langzeitporträts lassen sich verändernde Charaktere lebendig werden. Aber auch Figuren, die nur in der Gegenwart agieren, erhalten eine deutliche Kontur. Von den Ermittlern, die prüfen, ob die Fremde tatsächlich Heather Bethany ist, erfährt man zum Beispiel gerade genug an Eigenheiten, um einen lebendigen Eindruck zu gewinnen, ohne das unnötig lange Ausflüge in deren Privatleben notwendig sind. Auch der Grund für das Verschwinden der Mädchen ist nachvollziehbar – warum es allerdings dreißig Jahre lang keinerlei Spuren gab, ist schon etwas schwieriger zu schlucken.

Überhaupt bricht auf den letzten Metern alles in sich zusammen. Denn am Ende schwappt mit der Beantwortung aller Fragen eine große Harmoniewelle über alles und jeden hinweg und lässt strahlend hell und glänzend eine heile Welt zurück. Alles, was stören könnte, wird in einem Schwung weggewaschen, so dass Figuren, deren Ecken und Kanten zuvor mit Sorgfalt herausgemeißelt worden waren, am Ende glattgeschliffen glücklich Happyend spielen können. Nichts, was nicht durch ein einfaches Gespräch und schlichte Liebe zu bereinigen wäre – dabei hat sich die Autorin zuvor so viel Mühe gegeben, zu zeigen, was permanente Gewalterfahrungen oder das stete Verbergen von Teilen des eigenen Lebens mit der Fähigkeit zu vertrauen anstellen können. So spült die Harmoniewelle den sorgsam gebastelten Unterbau einfach weg und hinterlässt nichts als Kitsch.

Kirsten Reimers

Laura Lippman: Was die Toten wissen
Aus dem Amerikanischen von Mo Zuber
Goldmann 2009
kart., 410 Seiten, 8,95 Euro
ISBN: 978-3-442-46898-0

Eine Besprechung des Buches ist auch erschienen im
Titel-Magazin: Samstag ist Krimitag

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