Leben mit dem Verlust

Nicht nur Thomas Lynley muss einen Weg finden zu überleben

An der Küste von Cornwall wird die Leiche eines Jugendlichen gefunden. Santo Kerne scheint beim Klettern in den Klippen abgestürzt zu sein. Auf den ersten Blick wirkt es wie ein bedauerlicher Unfall. Entdeckt wird die Leiche von einem einsamen Wanderer: Thomas Lynley, nach dem dramatischen Tod seiner Frau und seines ungeborenen Kindes vollkommen aus der Bahn geworfen. Er hat Scotland Yard, Freunden und Familie den Rücken gekehrt, um allein die Küste entlang zu wandern, um zu vergessen. Doch der Tod von Santo Kerne zwingt ihn ins Leben zurück.

Denn wie sich herausstellt, handelt es sich nicht um ein Unglück. Die Kletterausrüstung des 18-Jährigen ist manipuliert worden. Die ermittelnde Polizeibeamtin, Detective Inspector Bea Hannaford sieht sich bald einer ganzen Reihe von Verdächtigen gegenüber, ein Motiv hatten recht viele.

Was jedoch auffiel, war die große Gelassenheit hinter dem Verbrechen. Zeit schien keine Rolle gespielt zu haben. Sie suchten also nicht nach jemand Ungeduldigem, der ein Verbrechen aus Leidenschaft begonnen hatte. Sie suchten nach jemand Ausgefuchstem.

Da sich die Ermittlungen immer komplexer gestalten und die Kriminalpolizei in dieser Gegend von Cornwall eher dünn besetzt ist sowie wenig Erfahrung mit der Aufklärung von Morden hat, zieht DI Hannaford Lynley zu den Ermittlungen hinzu. Außerdem hat sie jemanden von Scotland Yard zur Unterstützung angefordert: DC Barbara Havers ist unterwegs.

Kein typischer Lynley-Havers-Krimi

»Doch die Sünde ist scharlachrot« ist der 14. Kriminalroman von Elizabeth George um Thomas Lynley und Barbara Havers. Der vorherige Roman (»Am Ende war die Tat«) zählt nicht in die Reihe hinein, denn er schildert die Umstände, die zur Ermordung von Lynleys Frau Helen geführt haben, aus Sicht des zwölfjährigen Täters. Und auch der aktuelle Titel ist kein typischer Lynley-Havers-Krimi. Der Inspector und seine langjährige Partnerin spielen eher Nebenrollen. Lynley, der nur widerwillig ermittelt, verfolgt eigene Ideen und Spuren, und Barbara Havers unterstützt in erster Linie Hannaford, die in diesem Roman im Mittelpunkt steht. Und das ist gut so. Denn zum einen wäre ein aktiver Lynley eher unglaubwürdig, zum anderen ist Bea Hannaford eine sehr sympathische Ermittlerin.

Die alleinerziehende Mutter – geschieden aus eigenem Entschluss – ist sehr bestimmt und bodenständig und alles andere als eine Übermutter: Mit sympathischen Macken versehen ermittelt sie in einem Fall, der undurchdringlich scheint.

Differenzierte Charaktere, behutsames Vorgehen

Das Tempo des Krimis ist sehr zurückgenommen. Das passt sehr gut, denn natürlich geht es bei George nicht allein um den Mord. Die Personen und ihre Geschichte, ihre Beziehungen untereinander nehmen einen großen Raum ein. Der Fokus liegt auf Verlust eines geliebten Menschen und der Frage, welche Möglichkeiten man findet, um damit umzugehen: Da sind die Eltern des ermordeten Jugendlichen; der Großvater, der fürchtet, seine Enkelin an ein ihm fremdes Leben zu verlieren; der Vater, der vor vielen Jahren seinen Sohn verlor; die Frau, die sich vor langer Zeit von ihrer Familie lossagte; und natürlich Thomas Lynley, der einen Weg sucht, mit dem Mord an seiner Frau zu leben.

Differenzierte Charaktere, behutsames Vorgehen, übergeordnete Fragen, die aus verschiedenen Sichtweisen gestellt und betrachtet werden – Elizabeth George hat zu recht eine große Fangemeinde. Das muss man natürlich mögen. »Doch die Sünde ist scharlachrot« ist ein 760-Seiten-Wälzer mit dem Versprechen des Entschwindens für Tage und Stunden: eintauchen in die George-Welt, in der man eher fühlt als denkt. Da muss man der Autorin vertrauen können. Und George ist durchaus eine, der man sich anvertrauen kann, denn ihren Figuren wie ihren Lesern gegenüber handelt sie ebenso fair wie einfühlsam und gibt niemanden der Lächerlichkeit preis.

Kirsten Reimers

Elizabeth George: Doch die Sünde ist scharlachrot
Ein Inspector-Lynley-Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Ingrid Krane-Müschen und Michael J. Müschen
Blanvalet 2008, 768 Seiten, 24,95 Euro
ISBN: 978-3-7645-0242-3