Das grandiose Kampfschwein

Sie ist ein Trumm von einer Frau: Eva Wylie – groß, stark, hässlich, laut. Andere beschimpfen sie als »Kampfschwein«, sie selbst nennt sich die »Londoner Killerqueen«. Denn sie lebt ihren Kindheitstraum: Sie ist Profi-Catcherin. Ihr Geld verdient sie, indem sie mit ihren beiden Kampfhunden Ramses und Lineker einen Schrottplatz bewacht, auf dem auch ihr Wohnwagen steht. Weil das Geld immer knapp ist – die Zähne, das Catcherinnen-Outfit –, verdient sie sich mit kleinen zusätzlichen Aufträgen etwas hinzu – aber das geht mitunter gründlich schief.

Liza Cody hat mit Eva Wylie eine höchst ungewöhnliche und grandiose Figur geschaffen: furchtlos, aber ein bisschen paranoid, nicht besonders helle, ruppig, aber auch warmherzig und vor allem unabhängig. Unabhängigkeit ist ihr besonders wichtig, zu sagen hat ihr niemand was. Deshalb entzieht sie sich jedem Zugriff von außen: kein Konto, kein Strom, kein Führerschein. Braucht sie ein Auto, »leiht« sie sich eins. Ist sie wütend, reißt sie sich nicht zusammen, sondern schlägt zu – kräftig und direkt. Nicht immer die beste Lösung, aber wirkungsvoll. Sie hat eine Weile auf der Straße gelebt – da ist es gut, wenn man sich verteidigen kann. Andere Menschen sind eher nicht so ihr Ding.

»Hübschsein ist genauso für den Arsch wie Nettsein«

In drei Bänden lässt Liza Cody ihre unkonventionelle Heldin ihre Geschichten erzählen. In Band I (»Was sie nicht umbringt«, OT: »Bucket Nut«) gerät Eva zwischen die Fronten eines Untergrundkrieges, weil sie sich von den falschen Leuten für einen Rausschmeißerjob anheuern lässt. In »Eva sieht rot« (OT: »Monkey Wrench«) schult sie etwas widerwillig eine Gruppe von Prostituierten in Selbstverteidigung, was unvorhergesehene Folgen nach sich zieht. Und im dritten Band (»Eva langt zu«, OT: »Mus- clebound«) fällt ihr per Zufall eine Sporttasche voller Geld in die Hände, sie ist jetzt »Zillionärin«, ach was: sie hat Squillionen – und das kann nicht gut gehen.

Eva plaudert, wie ihr der Schnabel gewachsen ist: direkt und geradeaus, ohne Angst vor Schimpfworten oder treffenden Vergleichen: »Einen Arsch wie ein Elefant, Lauscher wie ein Karnickel und so viel Verstand wie eine Wollmaus«, so beschreibt sie zum Beispiel ihren Catch-Promoter. Mit Vorliebe wendet sie sich direkt an Leserinnen und Leser, gern mit Ratschlägen und Lebensweisheiten: »Hübschsein ist genauso für den Arsch wie Nettsein«, »Bier und Bauchmuskeln sind Todfeinde« oder auch: »Wer cool sein will, sollte auf seine Schnürsenkel achten«. Sie ranzt und rüpelt, ist distanzlos und ungehemmt, dass es eine Freude ist.

»Ich weiß ja nicht, wie es bei dir ist, aber mein Gehirn hat einen eigenen Kopf«

Ihr Blick auf die Welt ist eigen und etwas verschroben. Weil sie intellektuell nicht gerade beschlagen ist, hat sie sich ein Weltbild zusammengezimmert, das knapp eine Handbreit neben dem Offensichtlichen liegt. Andererseits ist gerade diese schräge Weltinterpretation in vielerlei Hinsicht entlarvend: Konventionen und Geschlechterrollen werden bloßgestellt, sexuelle Ausbeutung und soziales Gefälle klar benannt. Was naiv daherkommt, ist wie so oft in der Literatur hochreflektiert. Und grandios komisch. Aber Vorsicht: So geradeaus sie auch wirken mag, Eva Wylie ist eine unzuverlässige Erzählerin, der man nicht alles unhinterfragt abkaufen sollte.

In ihrer unbeugsamen, kratzbürstigen Art, in ihrer Weigerung sich anzupassen, vertritt Eva einen sehr handfesten Feminismus ziemlich rustikaler Art. Das ist enorm erfrischend. Dass die Bücher aus den neunziger Jahren stammen, fällt deshalb nicht auf. Derart schlagfertige Figuren, ein derart gekonntes Unterlaufen jeglicher Schönheits- und »Weiblichkeits«-Ideale, ein derart gelungenes Auf-den-Kopf-Stellen von Genrekonventionen ist immer aktuell. Darum ist es sehr schön, dass der Ariadne Verlag die Bücher wieder aufgelegt hat. Danke dafür!

Kirsten Reimers

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Liza Cody: Was sie nicht umbringt
(Bucket Nut, 1992)
Aus dem Englischen von Regina Rawlinson
Ariadne/Argument 2015
Tb., 268 Seiten, 10 Euro
ISBN 978-3-86754-201-2
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Liza Cody: Eva sieht rot
(Monkey Wrench, 1994)
Aus dem Englischen von Regina Rawlinson
Ariadne/Argument 2015
Tb., 255 Seiten, 10 Euro
ISBN 978-3-86754-203-6
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Liza Cody: Eva langt zu
(Musclebound, 1997)
Aus dem Englischen von Regina Rawlinson
Ariadne/Argument 2015
Tb., 287 Seiten, 10 Euro
ISBN 978-3-86754-205-0
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Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf
satt.org


Tödliche Trugbilder

Belleville, schöne Stadt, heißt ironischerweise der Teil von Paris, in dem Abraham, Abe genannt, aufgewachsen ist – ein Stadtteil jenseits der Touristenrouten, geprägt von Armut und Aussichtslosigkeit. Abe, Kleinkrimineller und Gelegenheitsdealer, innerlich brodelnd vor Wut, überfällt mit Freunden eine illegale Pokerrunde – und legt sich damit mit Männern an, die mehr als eine Kragenweite zu groß für ihn sind.

Der Überfall verändert alles – nicht nur wegen der Drohung der Männer, sie für den Überfall zur Rechenschaft zu ziehen. Auch innerlich bricht etwas auf in Abe: Die wutgespeiste Energie in ihm lässt sich nicht mehr zügeln. Mit großer Energie rast er dem Ende entgegen, dabei zerstört er andere, die er verachtet und beneidet – und er zerstört sich selbst.

»Paris, die Nacht« ist der Debütroman von Jérémie Guez, der bei seinem Erscheinen gerade mal 22 Jahre alt war. Kraftvoll, dunkel und klar, dabei sehr elegant, schildert er mit Gespür für Rhythmus und Verzweiflung den rauschhaften, unaufhaltsamen Absturz seines Ich-Erzählers.

Mörderische Abgründe

Der Auftragsmord an einem Polizisten und einer Frau auf offener Straße lässt Commissaire Daquin zunächst an der Integrität jenes Kollegen zweifeln, da Kokain bei den Leichen gefunden wird. Aber nicht nur Drogen spielen eine Rolle: Die Ermittlungen führen zu einem Fußballverein einer tristen Pariser Vorstadt, der den Sprung in die Profiliga geschafft hat. Er ist der Hoffnungsanker der Bewohner der Banlieu. Funktionäre wie Spieler engagieren sich für die Kinder und Jugendlichen des Viertels. Doch hinter der Fassade der heilen Welt des Sports tut sich ein Abgrund auf: Geldwäsche, Korruption, Drogenhandel, Erpressung, Mord.

Glasklar und mit analytischer Präzision seziert Dominique Manotti in »Abpfiff« die Widersprüche zwischen der leidenschaftlich beschworenen Treue zum Verein und den gekauften Spielersöldnern, zwischen Teamgeist und Diventum, zwischen naiver Begeisterung und gnadenlosem Marketing- und Finanzkalkül. Sie zeigt ganz nebenbei, wie selbstverständlich Doping im Profisport ist, und bettet das Geschehen in einen weit größeren Rahmen aus Machtgier, Profitdenken und Skrupellosigkeit ein. Gewohnt brillant und unbestechlich klug.

Monster gebären Monster

Der New Yorker Central Park wird von Ratten überrannt, Leichen hängen in den Bäumen, und eine kleine, bezaubernde Fee mit roten Haaren hat irgendwas damit zu tun. Das mag im ersten Moment versponnen niedlich klingen – aber tatsächlich ist es der Auftakt einer monströs schmerzhaften Ermittlung. »Kreidemädchen« ist der vierte Kriminalroman um die einzigartige Detective Kathleen Mallory, der auf Deutsch erschienen ist. Insgesamt ist es der zehnte Roman von Carol O’Connell, und es bleibt zu hoffen, dass die restlichen auch bald übersetzt werden – denn die Autorin und ihre Hauptfigur sind schlicht brillant.

Neben Mallory ist Lisbeth Salander plumpe Kreisklasse: Mallory hat es gar nicht erst nötig, jemanden zu foltern, um ohne jeden Zweifel klarzumachen, dass sie nicht zögern würde, es zu tun. Sie ist eine Meisterin der Intrige, und die Datenbank, die nicht von ihr gehackt werden kann, muss erst noch erfunden werden. Sie ist eiskalt, absolut berechnend, perfekt in jeder Hinsicht, spielt in ihrer eigenen Klasse und Mannschaft – und ist überhaupt eine undurchschaubare, brillante Soziopathin. Vielleicht. Vielleicht spielt sie dies jedoch auch nur.

»Kreidemädchen« ist von großer Leichtfüßigkeit und Eleganz, von gemeiner Perfidie und sarkastischer Fluffigkeit, von ganz feinem, untergründigem Witz – und darunter liegt ein unstillbarer Schmerz, nicht greifbar, doch stets ahnbar. Ganz wunderbar, elegant und tödlich wie ein Stilett.

Kirsten Reimers

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Jérémie Guez: Paris, die Nacht
(Paris la nuit, 2011)
Aus dem Französischen von Cornelia Wend
Polar Verlag 2015
Tb., 136 Seiten, 12,90 Euro
ISBN 978-3-945133-14-9
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Dominique Manotti: Abpfiff
(Kop, 1998)
Aus dem Französischen von Andrea Stephani
Ariadne/Argument 2015
geb., 230 Seiten, 17 Euro
ISBN 978-3-86754-197-8
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Carol O’Connell: Kreidemädchen
(Chalk Girl, 2012)
Aus dem Amerikanischen von Judith Schwab
btb 2015
Tb., 544 Seiten, 9,99 Euro
ISBN 978-3-442-74741-2
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 Diese Rezension ist zuerst erschienen in der
Frankfurter Neuen Presse


Abwärts

Es beginnt wie in so vielen Detektivromanen: Jemand wird beauftragt, einen Menschen zu suchen. Eigentlich keine große Sache. Und wie so oft entpuppt sich der Auftrag als Falle: Es steckt etwas völlig anderes dahinter, der Privatermittler wird manipuliert und ausgenutzt. So auch in »Dope« von Sara Gran. Ein bekanntes Muster, und doch gelingt es ihr, etwas ganz Eigenes daraus zu erschaffen.

Der Privatdetektiv ist in diesem Fall eine Frau: Josephine »Joe« Flan- nigan. Sie soll im New York der fünfziger Jahre ein junges Mädchen aus gutem Hause suchen, das in die Drogenszene abgerutscht ist. »Dope«, das steht in diesem Fall für Heroin. Joe hat keine Erfahrung als Detektivin, aber sie war lange Jahre heroinabhängig, mehrfach im Gefängnis wegen Diebstahl und Prostitution, inzwischen ist sie seit wenigen Jahren clean. Gerade wegen ihrer Erfahrung wird sie engagiert, schließlich kennt sie die einschlägigen Plätze, an denen mit Drogen gehandelt wird, hat die entsprechenden Kontakte, um sich unauffällig in der Drogenszene zu bewegen.

Eine Welt hinter der Welt

Joes Suche ist eine Reise in ihre eigene Vergangenheit und ein Abschreiten der Stationen, die einer abhängigen Frau bevorstehen, die sich für Dope prostituiert: von schicken Bars über zwielichtige Kaschemmen, auf die Straße und bis zum letzten Höllenkreis: im Keller von Jezebel. Hier liegen die Huren in Kabuffs, die nur mit Laken voneinander getrennt sind, erwarten die Freier und die Heroinspritzen, die ihnen die Puffmutter verabreicht. Ein Ort, den kaum eine Frau auf den eigenen Beinen verlässt, die Endstation. Hiernach kommt nur noch der Tod.

Gran schildert eine Welt voller Misstrauen und Einsamkeit, nur erfüllt von der Suche nach dem Geld für den nächsten Schuss, eine Welt, in der jeder jeden über den Tisch zieht und niemand es anders erwartet. Eine Welt mit einer eigenen Topographie, die nur wenig gemein hat mit der schillernden Fassade des Big Appel und doch an jeder Ecke gegenwärtig ist.

Von großer Wucht und Unmittelbarkeit

Von Sara Gran sind in den letzten Jahren zwei Kriminalromane um die eigenwillige Privatdetektivin Claire DeWitt erschienen. »Dope« ist ihr Krimidebüt, das erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde. Es verzichtet weitgehend auf surreale Elemente und ist angelehnt an die Romane von Raymond Chandler und Dashiell Hammett, doch durch die Wahl einer weiblichen Hauptfigur gewinnt es eine ganz eigene Kraft und einen ungeschminkten Blick auf Abhängigkeiten und Ausweglosigkeiten. Gran nutzt ein bekanntes Muster, um eine Geschichte zu erzählen, die sich an abhängigen jungen Frauen immer ohne größere Varianten wiederholt und schafft so etwas von Grund auf Neues. Ein Roman von großer Wucht und Unmittelbarkeit mit einer sehr eigenen Handschrift.

Kirsten Reimers

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Sara Gran: Dope
(Dope, 2006)
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Droemer 2015
Tb., 252 Seiten, 12,99 Euro
ISBN 978-3-426-30445-7
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Diese Besprechung ist zuerst erschienen auf
FaustKultur


Die dunkle Seite des Reichtums

Hopetoun in Westaustralien. Bis vor kurzem noch ein unbedeutendes Kaff am Südpolarmeer, jetzt eine Boomtown dank der Nickelminen, die ganz in der Nähe betrieben werden. Gesichtslose Siedlungen, Gewerbegebiete, neue Restaurants: Das neue Geld hinterlässt seine Spuren. Und der Wohlstand hat seinen Preis: wachsende Kriminalität, Drogen, Korruption, Filz, Rassismus. Als am Strand ein kopfloser Torso gefunden wird, scheint dies die Chance für den zum Viehdezernat strafversetzten Detective Philip »Cato« Kwong zu sein, sich wieder zu rehabilitieren.

Parallel dazu nimmt der Ex-Detective Stuart Miller die Spur eines alten Falles wieder auf, der ihm nie Ruhe gelassen hatte: Vor 35 Jahren ermordete in England ein Mann seine schwangere Frau und seinen kleinen Sohn und verschwand spurlos. Nun gibt es Anzeichen, dass er nach Australien geflohen ist und dort weitere Morde beging. Beide Fälle überschneiden sich, als in Hopetoun erneut ein Mord geschieht.

»Prime Cut« ist der erste Roman des seit vielen Jahren in Australien lebenden Engländers Alan Carter. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise des Jahres 2008 zeichnet er ein vielschichtiges Porträt einer Stadt im Goldrausch: Die Aussicht auf Reichtum lockt viele Menschen an – doch wirklich profitieren vom Boom nur die, die ausreichend Geld, Kontakte und Skrupellosigkeit besitzen, und dies auf Kosten derjenigen, die gar nichts haben. Der Krimiplot mag an der einen oder anderen Stelle etwas holprig sein, doch Carter gelingen stimmige Charaktere in einer beeindruckenden Landschaft, geschrieben mit trockenem Humor und einem klaren Blick für gesellschaftliche Verhältnisse.

Zwischen Fiktion und Dokumentation

Ein Kreuzfahrtschiff, ein Containerschiff, ein Schlauboot mit Flüchtlingen aus Algerien – im Mittelmeer kreuzen sich ihre Wege. Für manche bringt diese Begegnung eine entscheidende Wende im Leben, manche finden den Tod, andere ein neues Leben. Unberührt lassen diese zwei Nächte und ein Tag niemanden – auch die Leser nicht.

»Havarie« von Merle Kröger ist ein vielschichtiger Roman. Über die Begegnung der Schiffe hat die Autorin ebenfalls einen Film gedreht, der unter dem gleichen Titel 2016 erscheinen wird. Die Filmidee hat Spuren im Buch hinterlassen: knappe Kapitel, klare Schnitte, kurze Passagen wie aus einem Drehbuch – die reine Erzählform wird aufgebrochen. Es gibt keine Hauptfigur, sondern viele gleichberechtigt nebeneinander auftretende Personen, deren Geschichten jeweils in kurzen Episoden erzählt werden. Erinnerungen, Träume und Rückblenden geben Einblicke in ihre Vergangenheit.

Sie alle haben Krieg, Gewalt, Flucht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlebt – und zwar aus den unterschiedlichsten Perspektiven: als Täter, als Opfer, als Mitläufer. Keiner ist hier ohne Schuld, niemand nur Opfer. Merle Kröger erzählt die Schicksale, ohne zu verurteilen oder zu erhöhen. Gut oder böse – das ist unwichtig, jede und jeder hat Gründe für ihr bzw. sein Handeln. So überschreitet der Roman die Grenze zur Dokumentation, bleibt doch rein fiktiv – ein facettenreicher, kluger, mutiger und komplexer Roman.

Abstieg in die Hölle

New York in den fünfziger Jahren. Es beginnt wie in so vielen Krimis mit Privatdetektiven: Jemand wird beauftragt, jemanden zu finden – eigentlich keine große Sache. Und wie so oft entpuppt sich der Auftrag als fingiert: Dahinter steckt etwas völlig anderes. Diese Grundidee behält Sara Gran in »Dope« bei, um dann etwas sehr Eigenes daraus zu formen. Der Privatdetektiv ist in diesem Fall eine Frau, und zwar eine ehemalige Heroinabhängige. Sie soll ein junges Mädchen aus gutem Haus suchen, das in der Drogenszene verschollen ist. »Dope«, das steht in diesem Buch für Heroin. Josephine »Joe« Flannigan ist zwar schon seit geraumer Zeit clean, aber sie kennt noch die Plätze, an denen Drogen verkauft werden, sie hat noch die entsprechenden Kontakte, um sich in der Drogenszene umzusehen. Deshalb wird sie engagiert. Und weil der Auftrag sehr gut bezahlt ist, nimmt sie ihn an.

Joes Suche ist eine Reise in ihre eigene Vergangenheit und ein Abschreiten der Stationen, die einer herionabhängigen Frau bevorstehen, die sich für Dope prostituiert: von schicken Bars über zwielichtige Etablissements, auf die Straße und bis zum letzten Höllenkreis, ein mit Laken abgetrenntes Kabuff im Keller von Jezebel, ein Ort, den die Frauen nur selten von sich aus verlassen, sondern entweder im Kranken- oder im Leichenwagen. Eine Welt voller Misstrauen und Einsamkeit, nur erfüllt von der Suche nach dem nächsten Schuss, mit einer eigenen Topographie, die nur wenig mit der schillernden Fassade des Big Apple zu tun hat.

Von Sara Gran sind in den letzten Jahren zwei Kriminalromane um die eigenwillige Privatdetektivin Claire DeWitt erschienen. »Dope« ist ihr Krimidebüt, das erst jetzt ins Deutsch übersetzt wurde. Es ist etwas konventioneller als die späteren Romane, aber doch von großer Kraft und Unmittelbarkeit. Und bereits mit einer sehr eigenen Handschrift.

Kirsten Reimers

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Alan Carter: Prime Cut
(Prime Cut, 2011)
Aus dem Englischen von Sabine Schulte
Edition Nautilus 2015
kart., 368 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 978-3-89401-812-2

Merle Kröger: Havarie
Ariadne/Argument 2015
geb., 227 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-86754-224-1
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Sara Gran: Dope
(Dope, 2006)
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Droemer 2015
Tb., 252 Seiten, 12,99 Euro
ISBN 978-3-426-30445-7
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der
Frankfurter Neuen Presse


Mord in der Hafenstadt

Hamburg-Krimis: Die Reeperbahn zwischen Rotlicht und Blaulicht

Von der nahgelegenen Elbe dringt das Tuten einer Schiffssirene herauf, Bässe wummern aus den offenen Türen von Bars, Bistros und Bordellen: Die Reeperbahn in Hamburg-Sankt Pauli ist eine der bekanntesten Amüsiermeilen der Welt, eine Touristenattraktion und kein wirklich gefährliches Pflaster. Tagsüber schlendern Familien mit Kindern die »sündige Meile« entlang, abends und am Wochenende drängt sich das Partyvolk auf den Gehwegen, dazwischen Junggesellinnenabschiede, Schulklassen auf Studienfahrt. Immer wieder begegnen einem Touristengruppen, die ins Musical »Rocky« wollen, das am östlichen Ende der Reeperbahn im Stage Operettenhaus am Schaubudenplatz gegeben wird. Es ist ein gezähmtes Rotlichtmilieu, solange man die dunkelsten Seitengassen und die zwielichtigsten Etablissements meidet.

Rund um die Davidwache

Das war nicht immer so. Neben dem Operettenhaus, dort, wo heute die »Tanzenden Türme« aufragen war bis 1942 das beliebte Tanzlokal »Zum Trichter«, benannt nach seiner charakteristischen Form. In diesem – verhältnismäßig harmlosen – Tanzlokal muss Heinrich Hansen beobachten, wie seine Jugendliebe endgültig auf die schiefe Bahn gerät. Hansen ist die Hauptfigur von Virginia Doyles »Sankt-Pauli-Trilogie«, und Virginia Doyle ist das Pseudonym des Krimiautors Robert Brack. Sein Kriminalkommissar Hansen ist auf Sankt Pauli geboren und mit dem Viertel verwachsen. Er kennt die Menschen hier: die Sonderlinge und Halbseidenen, die Huren, die Varietékünstler, all jene, die nicht ins bürgerliche Raster passen. Hansen ist mit ihnen aufgewachsen, das macht es ihm als Polizist auf der berühmtesten Polizeidienststelle Deutschlands, der Davidwache, nicht immer einfach, denn mitunter muss er gegen frühere Freunde und Schulkameraden ermitteln.

Vierzig Jahre umfasst die Sankt-Pauli-Trilogie: Der erste Band, »Die rote Katze«, spielt 1903; Band zwei, »Der gestreifte Affe«, ist zu Beginn der wilden Zwanzigerjahre angesiedelt; »Die schwarze Schlange« bildet den Abschluss im Jahr 1943. Sorgfältig recherchiert lässt Brack in seinen historischen Kriminalromanen das Amüsierviertel zu Beginn des 20. Jahrhunderts auferstehen. Die Morde, die es aufzuklären gilt, sind fiktiv. Doch die damalige Atmosphäre, das tatsächliche Zeitgeschehen, die Veränderungen in Stadt und Gesellschaft – das fängt der Krimi lebendig und spannend ein.

 Zuhälterkriege und Polizeiskandal

Etwas weiter westlich die Reeperbahn hinauf auf der anderen Straßenseite, neben der legendären Kneipe »Ritze«, lag bis zum Frühjahr 2015 das Eros Center. Es war das erste Großbordell Deutschlands, gebaut 1967, zu einer Zeit, als das Geschäft mit käuflichem Sex boomte und einen Massenmarkt erreichte. Das Eros Center war Symbol und Gradmesser des Rotlichtmilieus zugleich. Lange Zeit hieß es: Wer das Eros Center beherrscht, beherrscht die Reeperbahn. Und das waren in den Siebzigerjahren die Zuhältergang GMBH und die Nutella-Bande. Sie lieferten sich einen Krieg um die Vorherrschaft, der immer brutaler wurde. Galt zunächst noch das Faustrecht, kam es in Achtzigerjahren zu Schießereien. Bekannt wurde der Auftragsmörder Werner »Mucki« Pinzner, der für eine Hamburger Kiezgröße acht Morde begangen hatte. Verurteilt wurde er nie, weil er bei seinem letzte Verhör den Untersuchungsrichter, seine Frau und sich selbst erschoss. Ein besonders dunkles Kapitel der Reeperbahn und der Stadt Hamburg.

Frank Göhre, der mehrfach preisgekrönte Drehbuchautor und Meister der deutschsprachigen Noir, hat diese Ereignisse seiner »Kiez-Trilogie« zugrunde gelegt. In den Romanen »Der Schrei des Schmetterlings«, »Der Tod des Samurai« und »Der Tanz des Skorpions« rollt er das Geschehen auf und verzahnt dabei gekonnt Fiktion und Fakten. Präzise und mit sensibler Klarheit schildert er die Zuhälterkriege, den Hamburger Polizeiskandal der Achtzigerjahre und die Anfänge der organisierten Kriminalität und erschafft so – dunkel, hochspannend und mitreißend – ein scharfsichtiges Soziogramm des Rotlichtmilieus, der Stadt und der damaligen Gesellschaft.

Andere Zeiten, andere Verbrechen, andere Krimis

Seit Ende März 2015 ist das Eros Center geschlossen. Das Geschäft mit dem käuflichen Sex läuft schlecht. Was früher eine Goldgrube war, ist heute ein Zuschussgeschäft, denn auch auf der »Geilen Meile« (so auch der Titel einer sehr zu empfehlenden Sammlung von kurzen Romanen und Geschichten von Frank Göhre) setzt sich eine »Geiz-ist-geil«-Mentalität durch: Gleich neben dem Billig-Bordell »Geizclub« ist eine Filiale von MacDonalds, ein Hostel und eine Spielhalle folgen. Das große Geld ist hier nicht mehr zu machen.

Diese Veränderungen spiegeln sich in den Kriminalromanen von Simone Buchholz wider. Schräg gegenüber des ehemaligen Eros Center, ein wenig zurück in östlicher Richtung, liegt der Hans-Albers-Platz. Hier irgendwo, nicht weit von der berühmt-berüchtigten Herbertstraße , nah der Davidwache, liegt die (fiktive) Lieblingskneipe von Simone Buchholz’ Hauptfigur: Staatsanwältin Chastity Riley ist eine Frau mit ungewöhnlichem Namen und wundgescheuertem Herzen, die sich in vielem sehr angenehm abhebt von den üblichen Frauenfiguren in Kriminalromanen. Buchholz, die selbst auf Sankt Pauli wohnt, schildert das Kiez-Leben mit Herz und Hirn, zeigt den weichen Kern, der oftmals hinter der rauen Schale liegt. Ein buntes und ungewöhnliches Viertel, auch nicht ungefährlich – doch die wirklichen Verbrechen haben hier keinen Platz mehr: Sie finden sich – zumindest in »Bullenpeitsche«, dem aktuellen Krimi von Simone Buchholz – im neuen Wahrzeichen Hamburgs, der Hafencity. Statt um Drogenhandel und Prostitution geht es heute um Immobilienschacherei und Korruption. Die Zeiten ändern sich – ebenso wie die Stadt, ihre Kriminalität und ihre Kriminalromane.

Kirsten Reimers

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Robert Brack/Virginia Doyle: Die rote Katze
Heyne 2005
Tb., 415 Seiten, 8,95 Euro
ISBN 978-3-453-43095-2
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Robert Brack/Virginia Doyle: Der gestreifte Affe
Heyne 2006
Tb., 415 Seiten, 8,95 Euro
ISBN 978-3-453-43190-4
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Robert Brack/Virginia Doyle: Die schwarze Schlange
Heyne 2007
Tb., 428 Seiten, 8,95 Euro
ISBN 978-3-453-43243-7
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Frank Göhre: Die Kiez-Trilogie
Pendragon 2011
Tb., 732 Seiten, 16,95 Euro
ISBN 978-3-86532-259-3

Frank Göhre: Geile Meile
Pendragon 2013
Tb., 507 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-86532-365-1

Simone Buchholz: Bullenpeitsche
Droemer 2013
Tb., 223 Seiten, 12,99 Euro
ISBN 978-3-426-22643-8
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

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des Goethe-Instituts

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